Jahrzehntelang dominierte die Pharmakologie die Medizin. Gegen jedes Wehwehchen wurde ein Mittel verschrieben. Der Gedanke, dass Krankheiten durch falsche Ernährung ausgelöst und sogar geheilt werden könnten, lag weit entfernt. Das ändert sich. Mit der Ernährungsmedizin bildet sich ein Zweig in der Medizin heraus, der sich anschickt, die Schulmedizin auf den Kopf zu stellen.
von René Scharton |
Es ist eine beißende Ironie des Schicksals, dass eine Gesellschaft mit zunehmendem Wohlstand irgendwann einen Punkt erreicht, an dem eine Fehlernährung wegen Hunger und zu wenig vorhandener Nahrung in eine Fehlernährung wegen zu viel und zu ungesundem Essen umschlägt. Unsere westliche Zivilisation hat diesen Punkt längst überschritten.
Übergewicht und Adipositas, Diabetes und Bluthochdruck sind mit ihrer Offenkundigkeit nur die Spitze des Eisberges. Viele Krankheitsbilder hängen erst auf den zweiten Blick mit einer falschen Ernährung zusammen. Verschiedene rheumatische Erkrankungen, Gelenkbeschwerden, Krebs, Osteoporose oder Gicht sind oft auf eine falsche Ernährung zurückzuführen. Es ist klar, dass Ernährung und der Gesundheitszustand eines Menschen unmittelbar zusammenhängen.
Die Ernährungsmedizin erkämpft sich ihren Platz
Der Volksmund wusste es schon immer: Du bist, was du isst. Immer mehr Studien bestätigen, dass eine ausgewogene Ernährung einen positiven Einfluss auf eine Vielzahl von Krankheiten hat. Einige sind durch eine gute Ernährungstherapie sogar heilbar. Dennoch begegnen viele Ärzte der Ernährungsmedizin noch immer skeptisch. Dr. Matthias Riedl, Pionier seines Fachs und Deutschlands bekanntester Ernährungsmediziner will das ändern.
„Es ist eine gewaltige Herausforderung der Medizin. Die meisten Ärzte, die heute in der Schulmedizin den Ton angeben, haben selbst in ihrem Studium nichts über Ernährungsmedizin gelernt“, so Riedl.
Vor zwanzig Jahren sei die Ernährungsmedizin noch als Esoterik verschrien gewesen. Die Schulmedizin habe weniger Ursachenforschung betrieben und mehr auf Tabletten und Operationen gesetzt, als dem Kranken wirklich auf den Zahn zu fühlen.
Eine gefährliche Vernetzung mit der Pharmaindustrie
Dabei hat die Medizin große Erfolge gefeiert. Medikamente sind keineswegs zu verteufeln. Ohne sie würden viele Krankheiten heute noch deutlich schmerzhafter verlaufen und weit mehr Leid verursachen. Die Erfindung großartiger Arzneimittel ist ein Segen für die Welt.
Dennoch hat sich in der Medizin eine in Teilen gefährliche Vernetzung mit der profitorientierten Pharmaindustrie herausgebildet. Das führt dazu, dass Ärzte auch in solchen Fällen Medikamente verschreiben, in denen ein genauerer Blick auf die Ernährungsgewohnheiten die Ursache des Leidens aufgedeckt hätte. Stattdessen verursachen die Medikamente Nebenwirkungen, die nicht hätten sein müssen. Außerdem heilen sie nicht, sondern bekämpfen bloß Symptome.
Ernährung ist Krankheitsursache und Therapie zugleich
“Ungefähr die Hälfte aller Patienten, die in deutschen Arztpraxen behandelt werden, kommen wegen ernährungsbedingten Indikationen zum Arzt”, so zitiert Dr. Riedl eine aktuelle Studie der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE). “Das muss uns doch die Augen öffnen.”
Was wir essen, spielt eine empfindliche Rolle in unserer Gesundheit. Nach und nach kommt diese Einsicht in der Gesellschaft an. Gute Ernährung ist zu einem Trendthema geworden. Unzählige Medienformate beleuchten das Thema von allen Seiten. Die Öffentlichkeit scheint schneller als die akademische Medizin auf den Trichter zu kommen, dass gesundes Essen wichtig ist.
Noch ist die Ernährungsmedizin eine Nische, die aber immer mehr Relevanz für sich beansprucht und die Medizin immer mehr herausfordert, umzudenken. Genau wie jede andere ernstzunehmende Wissenschaft muss sich die Medizin immer wieder hinterfragen lassen und sich verbessern. Falsche Prämissen werden über Bord geworfen, wenn neue Erklärungsmodelle besser sind. Und genau das geschieht gerade.
Medizin muss offen für ihre Weiterentwicklung bleiben
Würde sich die Medizin nicht herausfordern lassen und sich nicht weiterentwickeln, dann würden Ärzte heute noch Heroin bei Depressionen verschreiben. Bevor die Anästhesie aus der Taufe gehoben wurde, mussten Alkohol und Beißhölzer herhalten und was heute eine gute Psychotherapie leistet, glaubte man noch in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts mit einem Stahlstachel lösen zu können.
Die Ernährungsmedizin wächst
„In zwanzig Jahren wird die Ernährungsmedizin die Debatten beherrschen. Es erscheinen immer mehr Studien, die die Thesen der Ernährungsmedizin stützen. An vielen maßgebenden Universitäten fordern die Studierenden mittlerweile mehr ernährungsmedizinische Inhalte im Curriculum. Es wächst. Aber noch sind wir Avantgarde“, sagt Riedl.
Dr. Riedl ist einer der Pioniere dieser Bewegung. Und er hat Recht damit. Vieles von dem, was als überliefertes Kräuterwissen in den Bereich der Naturheilkunde verschoben und oft belächelt wurde, wird zunehmend auch von der Wissenschaft bestätigt. Viele Studien belegen Zusammenhänge zwischen Ernährung und dem Risiko, zu erkranken.
Gleichzeitig stimmt auch der umgekehrte Fall: Gutes und artgerechtes Essen hat einen positiven Effekt auf unser Wohlbefinden. Und auch das wusste der Volksmund schon immer: Gegen alles ist ein Kraut gewachsen.
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